Den Pinsel mit den Lippen zuspitzen und das Grab der Buchmalerin

Anscheinend war es unter mittelalterlichen Buchmalern und auch noch darüber hinaus, mitunter üblich die Pinsel während des Malens mit den Lippen zu zuspitzen und überflüssige Farbe wegzunehmen.
Im Traite de Mignature von 1672 findet sich die Anweisung das man beim Malen die Pinsel mit den Lippen zuspitzen solle.

… Damit die Haare am Pinsel gut zusammen gehen und eine richtige Spitze bilden, muss man sie man sie oft während des Malens zwischen die Lippen nehmen, zuspitzen und mit der Zunge anfeuchten, sogar dann wenn Farbe am Pinsel ist.
Dabei wird ein zu viel an Farbe weggenommen und es lassen sich dann die Linien glatt und gleichmäßig malen.
Man braucht nicht zu befürchten das das jemandem schadet *, denn die Miniaturfarben haben weder schlechte Eigenschaften, noch einen unangenehmen Geschmack.
Diese Erfindung braucht man besonders beim Punktieren und ausarbeiten, speziell auch für Inkarnate. Die Striche sollen nämlich fein und nicht zu dickflüssig sein.
Will man ein Gewand oder andere Dinge malen so reicht es, wenn man beim Anlegen und Ausmalen den Pinsel, wenn zufiel Farbe daran ist, am Rand der Muschel, oder auf dem Papier abstreift.

Zwar ist diese Anweisung im 17. Jahrhundert niedergeschrieben worden, aber eine Grabung in der Nähe von Paderborn lässt vermuten, das dies bereits fünf- bis siebenhundert Jahre früher so praktiziert wurde.
Bei einer Grabung auf dem Gelände eines Frauenklosters, das in der Nähe von Paderborn liegt, wurden auf dem Friedhof des Klosters die sterblichen Überreste einer Frau gefunden.
Bei der Frau handelte es sich vermutlich um eine Nonne, die um das Jahr 1000 bis 1200 nach Christus im alter von 45 bis 60 Jahren dort bestattet wurde.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei ihr um eine Buchmalerin.
Denn in ihrem Zahnstein finden sich etwa in der Mitte des Mundes deutliche Spuren von Ultramarin.
Die wahrscheinlichste Erklärung dafür ist, das die Frau den Pinsel während des Malens mit den Lippen zugespitzt hat. Wobei der Umstand das die Frau Ultramarin Vermalen durfte, bzw. konnte, vermutlich auch etwas über ihre Können aussagt.

* Einige der in der Buchmalerei verwendete Farben sind sehr wohl giftig. Ich möchte von der Nachahmung dringend abraten.